Zusammen allein durch die Coronakrise
Das komplette öffentliche Leben ist eingestellt und der Staat bestimmt, mit wem wir uns treffen dürfen – und das seit Wochen. Was bis vor kurzem noch unvorstellbar war, ist schnell gelebter Alltag geworden und wir ringen damit das zu akzeptieren, uns zu arrangieren und das Beste daraus zu machen. Manches funktioniert erstaunlich gut, bei anderem tun wir uns merkwürdig schwer. Warum ist das so und was passiert da gerade mit uns? Diesen Fragen möchte ich in diesem Beitrag auf die Spur kommen….
Auf den ersten Blick erstaunlich, variieren die Folgen des Social Distancing stark
Eine der größten Umstellungen ist das Social Distancing mit stark variierenden Folgen für das Individuum. Für die einen entsteht paradoxerweise gerade ein deutliches mehr an räumlicher Nähe und Kontakt, weil alle ständig zu Hause sind (und sich potenziell auf die Nerven gehen können). Da wird gerungen, verhandelt, gestritten, weil viele längst geklärte Fragen neu beantwortet werden müssen: wer darf wo arbeiten? wer kümmert sich um die Kinder? Wer lebt wie seine Ängste und Launen aus? Was nervt, jetzt, da man sich nicht aus dem Weg gehen kann besonders? Da mag sich eine Stunde „allein sein“ schon fast wie ein Luxus anfühlen. Ein Luxus, dem der andere Teil der Bevölkerung gerade wenig abgewinnen kann – für sie bedeutet Social Distancing einen Mangel an menschlicher Nähe. Es entsteht ein Vakuum, Leere, weil viele Möglichkeiten des in Kontakt Tretens wegfallen. Je nach Typ empfinden die einen das als wohltuende Entschleunigung, die anderen fühlen sich einsam und isoliert. Von einem steigenden Angstniveau sind beide Gruppen gleichermaßen betroffen, wie die steigenden Zahlen bei den Telefonhotlines bestätigen.
Die Corona Krise stellt große Teile unserer sozialen Beziehungen in Frage
Doch was passiert hier eigentlich gerade. Warum haben so viele Menschen das Gefühl, nach Corona wird die Welt eine andere sein. Nur weil wir mal acht Wochen auf unser gewohntes, normales Leben verzichten? Sicher nicht. Es passiert in dieser Zeit psychologisch etwas mit uns Menschen, wir machen gerade Erfahrungen, die uns innerlich verändern. Und das kollektiv.
Was wir derzeit hautnah erleben, dass unsere Handlungsmöglichkeiten, schlichtweg unser Tun durch die Ausgangssperren stark eingeschränkt sind. Ich darf nicht mehr selbst entscheiden, wo ich arbeite, mit wem ich mich treffe oder wie und wo ich mein Wochenende verbringe. Jetzt wo wir an unsere vier Wände gebunden sind und viele Freizeitaktivitäten wegfallen, hätte man endlich mal wieder Zeit, die Eltern und Großeltern zu besuchen, es sich mit der Tante bei einem Stück selbstgebackenem Kuchen gemütlich zu machen, den Uropa im Heim zu besuchen oder ausgiebig mit den Enkelkindern zu spielen. Ein Gefühl von „nichts geht mehr“ stellt sich ein. Das aufgefangen werden in der (Groß)familie, ist gerade nicht – oder nur sehr eingeschränkt digital – möglich. Auch viele Gemeinschaftserlebnisse in der Freizeit fallen schlichtweg aus. Als Fußballfan kann ich die Zusammengehörigkeit im Stadion oder einer Kneipe nicht mehr erleben und zusätzlich fehlt plötzlich in vielen Kontakten und Freundschaften das verbindende, sinnstiftende Element. Über was soll ich mich mit meinen Fußballkumpels unterhalten, wenn es keinen Fußball mehr gibt? Hier entsteht nicht nur in den einzelnen Menschen, sondern auch in vielen sozialen Beziehungen ein Vakuum, weil gemeinsame, bislang sinngebende Erlebnisse wegfallen und es bleibt die Frage: War es nur das was uns verbindet? Was könnte es sonst sein? Was ist uns wichtig? Die Krise stellt große Teile unsere sozialen Kontakte in Frage und damit auch, wie wir in Zukunft mit unserem sozialen Umfeld umgehen werden.
Glücklicherweise durchlaufen wir diesen Mechanismus der sozialen Rollenfindung vielfach in unserem Leben, in der Regel in jeder Entwicklungsspanne einmal, häufig auch hier gezeichnet durch mehr oder weniger heftige Krisen. In der Pubertät, beim Einstieg ins Berufsleben, bei der Familiengründung, in der Midlife-Crisis und beim Übergang in den Ruhestand passen wir unsere Antworten auf die Frage „wer bin ich?“ an unseren Lebenskontext an und orientieren uns dabei an kulturellen- gesellschaftlichen Wertevorstellungen, die unser Rollenverständnis in der jeweiligen Phase entscheidend mitprägen. Studien haben beispielsweise gezeigt, dass es eine hohe soziale Übereinstimmung in den Erwartungen gibt, in welchem Alter man eine bestimmte Rolle erreicht haben sollte (so wird beispielsweise ein Berufseintritt im mittleren Erwachsenenalter negativ sanktioniert, genauso wie eine Elternschaft als 16jährige.).
Ob wir uns in unserer jeweiligen Rolle wohl fühlen hängt davon ab, ob wir in ihr unsere Identität leben können, also das was uns dem eigenen Empfinden nach einzigartig macht– wir werden uns eher durch ein einzigartiges Hobby definieren, als durch die Tatsache, dass wir zehn Finger haben. Stabile Merkmale, die über eine gewisse zeitliche und situative Konstanz verfügen, sehen wir als einen Teil, der uns ausmacht. Wahrscheinlich werde ich mich nicht so sehr als diejenige, die gerade die Telefonnummer wählt definieren, sondern eher als jemand, der zuverlässig Kontakt hält. Darüber hinaus dient auch die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe der Identifikationsbildung, vor allem in Abgrenzung zu anderen Gruppen (Einheimischer vs. Zugereister). Wichtig für die Frage, wer bin ich, ist auch die Frage, was ist mir wichtig. Und gerade hier verschieben sich die Antworten gerade massiv. Dadurch, dass wir in vielen Bereichen eingeschränkt werden, wird uns der Wert von familiären Beziehungen und tiefen Freundschaften vor Augen geführt. Wenn ich meine soziale Rolle nur noch sehr eingeschränkt leben kann, weil ich Verwandten und Freunde plötzlich nicht mehr besuchen darf, fällt mir auf, wie sehr sie mich bereichern und wie unterstützend sie in emotional schwierigen Zeiten, eben dann, wenn es wirklich darauf ankommt, sein können.
In der aktuellen Phase der Krise wird der Mensch als soziales Wesen beschworen. Gemeinsam durch die Krise. Wir pendeln zwischen Gesten der Solidarität und Großzügigkeit auf der einen Seite, Taxifahrer fahren medizinisches Personal kostenlos zur Arbeit, überall gibt es Initiativen die Kulturschaffenden und Freiberufler zu retten und Menschen nähen unzählige Schutzmasken für Risikogruppen. Auf der anderen Seite werden Hamsterkäufen getätigt, Schutzmasken gestohlen und Forderungen laut, die Risikogruppen sollen Zuhause bleiben und wir unser Leben „normal“ weiterleben. Was für ein Bild vom Wesen des Menschen wird durch diese Krise geprägt und welche Rolle wollen wir persönlich in dieser Krise verkörpern?
Wie finden wir heraus, was wir uns (gegenseitig) wert sind – indem wir uns selbst zuhören lernen
Wir werden von dieser Krise auf die Suche geschickt – die Frage „was sind wir uns (gegenseitig) wert?“ steht kollektiv im Raum und eröffnet die Möglichkeit sich selbst kennenzulernen, zu erforschen und zu begegnen.
- In welchen Situationen geht es mir gut, wann und mit wem fühle ich mich glücklich?
- Wovor habe ich Angst, worüber mache ich mir Sorgen? Was macht mich traurig, was verletzt mich?
- In welchen Situationen, Momenten fühle ich mich ruhig, komme ich zur Ruhe? Wann bin ich unruhig, aufgewühlt, angestachelt?
- Was ist mir jetzt wichtig? Was möchte ich zukünftig machen, wofür mich einsetzen?
Viele Menschen hören in der „verordneten“ Ruhe plötzlich ihren inneren Dialog. Da kommen Gedanken, Ideen, Kindheitserinnerungen hoch, an die man schon ewig nicht mehr gedacht hat. Und es ist für viele ungewohnt, diesem inneren Dialog Raum zu lassen, neugierig zu schauen, was da in einem, mit einem passiert. Auszuhalten, dass nicht sofort eine Antwort parat ist, sondern sich die Dinge entwickeln lassen. Sich selbst dabei zu beobachten, wie man angespannt und unruhig ist, und dann wieder glücklich und erleichtert, weil einem wieder etwas über sich selbst klar geworden ist, weil man etwas von sich selbst verstanden hat, dass sich erst hier zeigen konnte, und das man nicht über nachdenken herausgefunden hätte. Schritt für Schritt erkundet man sich selbst in diesem Prozess ein Stück weiter und entwickelt ein sicheres Gefühl dafür, was einem wirklich wichtig ist. Je geübter Sie in der Arbeit mit ihren Gefühlen und ihrem inneren Dialog sind, desto besser können Sie diese als Seismograph dafür nutzen, was für Sie passend, guttuend, sinnstiftend ist, welche Rolle Sie in Zukunft leben möchten. Das erfordert kurzfristig Mut und das Aushalten von vermeintlichem Stillstand und Unsicherheit, wird aber belohnt durch neue Energie und der inneren Sicherheit, das zu leben und zu tun, was man selbst möchte.
Wege entstehen dadurch, dass man sie (gemeinsam) geht.
Die letzten Wochen waren voller überraschender Wendungen – so vieles was bislang undenkbar war, utopisch, unrealistisch, wird plötzlich auf eine ganz neue, kreative und pragmatische Weise gelöst. An ganz normalen bayerischen Grundschulen gibt es digitale Videoklassenzimmer, plötzlich trauen sich Menschen gemeinsam etwas auszuprobieren. Nie war mehr möglich als gerade jetzt. Auch das ist eine neue Realität in der Coronakrise. Vielleicht gab es deshalb auch nie einen besseren Zeitpunkt sein persönliches Herzensprojekt, die Aufgabe, die einem Sinn verleiht aus der Traumwelt in die Realität zu holen und sie gerade jetzt zu starten, in dieser Phase, in der sich alle neu orientieren und ausrichten und auch eine außergewöhnliche Offenheit für Neues spürbar ist.
Und vielleicht kann eine neue Aufgabe auch die negativen Folgen des Social Distancing etwas abfedern – wenn gemeinsames Tun und Erlebnisse wegfallen, kann eine gemeinsame Aufgabe diese Leere füllen. Warum nicht zusammen eine virtuelle Band gründen, einen Podcast aufnehmen oder eine Crowdfounding-Kampagne aufsetzen. Wenn Sie jetzt Lust bekommen haben, auch einfach mal zu machen dann schauen sie doch einfach auf unserer Plattform nach Mitstreitern, garantiert virenfrei.
Weiterführende Literatur und Quellen
- https://causa.tagesspiegel.de/gesellschaft/lebenszeiten-wie-praegen-die-jahrzehnte-unsere-identitaet/wer-ich-bin-und-wenn-ja-wannnbsp.html
- Weiss, D., Job, V., Mathias, M., Grah, S., & Freund, A. M. (2016). The end is (not) near: Aging, essentialism, and future time perspective. Developmental Psychology, 52, 996–1009. doi:10.1037/dev0000115