Ist Purpose ein Luxusproblem der Verwöhnten und der Millenials?

Der Begriff „Purpose“ geistert derzeit wie ein Gespenst durch Medien und Gesellschaft. Firmen versuchen sich an „New Work“, Horden von Individuen gehen auf Wanderschaft um sich in der Ferne selbst zu finden, immer neue Bücher zu Purpose füllen immer mehr Regale und es gibt inzwischen haufenweise „Purpose“ Seminare (natürlich auch von zentor …).

Keine der großen Tageszeitungen darf es in diesem Jahr verpassen, mindestens eine Wochenendbeilage oder große Berichterstattung zu dem Thema zu schreiben – am besten mit einem leicht kritischem Unterton: Firmen reiche es nicht mehr, nur gute Produkte herzustellen, sie fühlen sich zu Weltverbesserern berufen … Oder: die Besserverdiener seien Heuchler wenn sie mehr Sinn statt mehr Geld suchten – bequem mit dem SUV zum Bioladen, ein paar wohltätige Spenden und überteuertes Holzspielzeug für die Kinder… Oder: die verwöhnten Millenials riefen nach Purpose im Job, ohne eine Arbeitsmoral zu kennen und um am Ende sowieso nur das zu tun, worauf sie gerade Lust haben.

Vielleicht fragen sich zurecht einige*, ob das Thema „Purpose“ nicht ein vorgetäuschtes Luxusproblem der Verwöhnten ist, insbesondere in einer Arbeitswelt, in der es so viele sinnstiftende, unbesetzte Stellen im Bereich Soziales, Bildung, Pflege und Gesundheitswesen gibt. Aber vielleicht greift die Suche nach Purpose doch tiefer?

Bedürfnispyramide (Illustration nach Maslow, 1970)

Der erste wissenschaftliche Reflex zu dem Thema ist der Griff zur Maslow Pyramide. In der ursprünglichen Fassung (1950) nahm Abraham Maslow an, dass Menschen zuerst nach Befriedigung der unteren Ebenen, der sogenannten „Defizitbedürfnisse“ (Essen, Trinken, Schlaf, Sicherheit, Liebe, Anerkennung) streben, bevor ein Wachstumsbedürfnis wie Selbstverwirklichung (die Spitze der Pyramide) eine große Rolle spielt. Eine Nichtbefriedigung insbesondere der Defizitbedürfnisse könne dabei physische oder psychische Störungen hervorrufen. Erst in einer späteren Fassung (1970) ergänzte Maslow, neben zwei Zwischenstufen in den Wachstumsbedürfnissen, die Pyramide um eine neue Spitze mit dem Begriff „Transzendenz“ – der sich als Purpose oder tieferer Sinn verstehen lässt. Auch deutet er in dieser Version ein paar Zweifel an der strikt hierarchischen Reihenfolge der Bedürfnisse an.

Und in der Tat: gerade dann, wenn manche Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden, kann das Streben nach tieferem Sinn oder psychologischen Bedürfnissen umso wichtiger werden. Ein besonders bewegendes Beispiel sind die von Viktor Frankl festgehaltenen Erlebnisse eines Psychologen im KZ** – in denen er feststellt, dass diejenigen die sich vorrangig mit den (nicht gestillten) Grundbedürfnissen beschäftigen, schlechtere Gesundheit und Überlebenschancen aufwiesen, als diejenigen, die einen tieferen Sinn trotz oder sogar in ihrem Leid erkannten. In einem gewissen Sinne hatte sich in der Extremsituation des KZ die Maslow’sche Pyramide umgedreht.

Unsere heutige Gesellschaft lässt sich nun (gottseidank) nicht mit einem KZ vergleichen, trotzdem ist eine hierarchische Trennung der Bedürfnisse auch heute nur begrenzt hilfreich. An anderer Stelle haben wir schon einmal hergeleitet, dass die drei wesentlichen Quellen für ein erfüllendes Leben sich vermutlich von den Maslow’schen Bedürfnissen unterscheiden – wir sehen tieferer Sinn, Engagement bzw. Begeisterungsfähigkeit und Wertschätzung als wesentlich an. Und tieferer Sinn oder Purpose wird eben nicht nur erst dann gesucht, wenn Wertschätzung und andere Grundbedürfnisse befriedigt sind. Sinn steht häufig sogar eher am Anfang einer Suche nach einem Plan für das Leben – und ist somit eben kein Luxusproblem der Betuchten. Auch die Suche nach Purpose der Millenials lässt sich als Erkenntnis verstehen, dass ein moderner Job bei allem technischen und gesellschaftlichen Fortschritt niemals ein Grundbedürfnis wie Sicherheit stillen kann. Wenn ein Job also sowieso im Zuge von AI oder Automatisierung vielleicht hinfällig wird, oder sich eine Aufgabe durch neue Technologien und Herausforderungen komplett wandelt, sollte diese mir wenigstens tieferen Sinn geben – folglich richte ich meine Berufswahl darauf aus.

Die Suche danach, uns selbst, unsere Aufgabe und unseren Platz in der Gesellschaft verstehen zu wollen ist so alt wie die Entwicklung der Arbeitsteilung der Menschheit vor tausenden von Jahren. Seit dem Moment an dem wir nicht mehr direkt für unser tägliches Überleben verantwortlich waren, wurde unsere Identität auch durch eine Rolle in der Gemeinschaft geformt. Und solange wir wussten, welchen Sinn unsere Rolle erfüllt, hatten wir Bedeutung.

Je moderner, abstrakter und komplexer unsere Gesellschaft wird, umso mehr verlieren wir den Bezug zu einer Rolle und letztlich unsere Bedeutung und unseren Sinn. In unserem heutigen Bildungs- und Wertesystem wird nun häufig Erfolg und Status als Ersatz für Bedeutung vermittelt – was zwar einerseits zu mehr Fortschritt, Entwicklung und Wohlstand führt. Andererseits erkennen viele derer, die mit hoher Ambition eine Rolle mit Erfolg und Status gesucht haben erst spät, dass sie vielleicht einem schlechten Ersatz für Bedeutung gefolgt sind, der letztendlich doch keinen tieferen Sinn vermittelt. Und dabei ist es unerheblich ob man nun tatsächlich (finanziellen) Erfolg und Status erlangt hat oder diesem nur als Ideal hinterhergelaufen ist.

Die Such nach Sinn ist nach meiner Einschätzung nach nicht eine Frage des Einkommens, sondern eine Frage missgerichteter Ambitionen – und findet sich in allen Bevölkerungsschichten und Einkommensniveaus. Der Auslöser ist nicht gesellschaftlicher Wohlstand, sondern eine gesellschaftliche Entwicklung, die in ihrer Komplexität und Geschwindigkeit unser Streben nach Bedeutung vor eine neue Herausforderung stellt. Die Generation der Millenials mag dies zuerst auf den Punkt gebracht haben – es betrifft aber alle von uns, die ihre Identität und Ihren Platz in einem „größeren Ganzen“ noch nicht gefunden oder noch nie gesucht haben.

Fußnoten
* siehe z.B. https://krautreporter.de/2935-du-findest-deine-arbeit-sinnlos-mach-doch-meinen-job
** Frankl, V. (1946). Trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager

Ausgewählte Links & Literatur
https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/unternehmen-auf-sinnsuche-von-kapitalisten-zu-weltverbesserern-16080256.html
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/rente-gesundheit-studie-1.4552043
https://www.sueddeutsche.de/wissen/sinn-des-lebens-psychologie-1.4522492
https://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/handelsblatt-umfrage-der-sinn-hinter-der-arbeit-so-benennen-die-30-dax-konzerne-ihren-purpose/24231702.html
https://www.zeit.de/campus/2019/01/weltverbesserung-unternehmen-umsatz-sinnhaftigkeit-umwelt-kapitalismus/komplettansicht
– Maslow, A. H. (1970). Motivation and Personality. New York: Harper & Row