Stress ist das Immunsystem für unsere psychische Gesundheit

Wir verstehen Stress meist als etwas Negatives, etwas das wir um jeden Preis vermeiden sollten, etwas das in einem Atemzug mit Burnout verwendet wird. Und nach dem Wetter (bzw. akut natürlich nach Corona Covid-19) ist es das Thema Nr. 2 über das wir uns wunderbar im Smalltalk mit Freunden und Kollegen unterhalten können und uns darüber beklagen dürfen. Stress-bashing ist sozusagen gesellschaftlich anerkannt oder vielleicht sogar sozial erwünscht?
Nun, eine Gemeinsamkeit im Smalltalk festzustellen ist sicher hilfreich für die Beziehungspflege (siehe auch diesen Artikel), aber ich muss hier einmal dringend eine Lanze für Stress brechen:

Unsere Stressreaktion ist eine wunderbare Errungenschaft unserer Evolution!

Ich würde sogar soweit gehen zu behaupten, Stress ist das Beste, was uns für unsere psychische Gesundheit passieren konnte. Und hiermit begebe ich mich auf wirklich dünnes Eis, denn auch in wissenschaftlichen Kreisen ist Stress-bashing an der Tagesordnung — mit dem Argument, dass unsere „fight-or-flight“ Reaktion zu Zeiten von Säbelzahntigern zwar evolutionär adaptiv war, im heutigen Bürodschungel der hot desks mit gefährlichen Papiertigern aber nicht mehr angemessen ist.

Stress und Stressreaktion

Wenn wir allerdings keine so effektive Stressreaktion hätten, gäbe es nicht nur im Straßendschungel exponentiell mehr Verkehrsunfälle, sondern wir würden auch viele der Aufgaben die uns im Beruf, Privaten oder Freizeit begegnen nicht mehr erledigen können. Denn genau dazu ist Stress da: hocheffizient und effektiv kurzfristig den Fokus und die Energie bereitzustellen, um Herausforderungen zu meistern. Das Problem entsteht erst dann, wenn wir unsere Stressreaktion zu häufig aufrufen, ohne ausreichend Regeneration dazwischen zu erlauben.

Immunsystem

Wo ist da der Unterschied zum Immunsystem für unsere physische Gesundheit? Wenn ein Krankheitserreger abgewehrt werden muss, verlangt unser Immunsystem auch nach Ruhe, die wir ihm normalerweise auch gerne geben. Und wir sind unserem Immunsystem dankbar, wenn dieses es geschafft hat, uns vor der sich anbahnenden Erkältung zu bewahren oder sie zu überwinden. Beschweren wir uns dann über unser Immunsystem, dass es auf Erreger reagiert?!
Denn Stress ist genau das Äquivalent: Die biologische Reaktion (insbesondere der sog. HPA Achse) auf Stressoren in unserer Umgebung — sozusagen die „psychischen“ Erreger unserer Umwelt. Die Reaktion dieses Stress-Immunsystems gibt dann nicht nur unserem Körper die Fähigkeit schneller zu rennen, sondern auch unserem Gehirn den notwendigen Fokus, Aufmerksamkeit, Energie und Geschwindigkeit, um den Stressor zu bewältigen.

Das bessere System?

Jetzt wird es spannend: Stress ist nicht objektiv, sondern entsteht erst durch subjektive Bewertung von Stressoren in unserer Umgebung. Das Stressmodell von Lazarus geht dabei von zwei Stufen der Bewertung aus, von denen mindestens die zweite (und wichtigere) Bewertung verändert werden kann. Die erste Stufe hat tatsächlich mit Säbelzahntigern zu tun — kann aber auch teilweise beeinflusst werden.

Wir können durch Neubewertung von Stressoren unser Stress-Immunsystem trainieren, weniger zu reagieren — z.B. wenn wir wissen, dass wir einen als Stressor interpretierten Reiz auch ohne Stressreaktion lösen können. Versuchen Sie das mal mit ihrem physischen Immunsystem! Man kann sich zwar gegen einzelne Krankheiten impfen oder desensibilisieren lassen, doch lang nicht so effizient wie bei Ihrer Stressreaktion. Auch wird die benötigte Regenerationsphase nach einer Stressreaktion mit ca. 4h als deutlich geringer geschätzt als die Zeit, die das (physische) Immunsystem braucht um mit Erregern fertig und wieder fit zu werden.

Psychische Gesundheit

Und ein Aspekt wird viel zu selten beleuchtet: Was wäre denn die Auswirkung auf unsere psychische Gesundheit, wenn wir mangels einer Stressreaktionen viele Herausforderungen unseres Alltags nicht mehr meistern könnten? Was für fatale Auswirkungen für unsere Identität hätte es, festzustellen, dass wir uns in manchen Situation nicht mehr selbst helfen können? Erlernte Hilflosigkeit kann schnell zu Depressionen führen; auch würde die Sorge vor nicht bewältigbaren Stressoren massiv unsere Ängste schüren.
Depressionen und Angststörungen sind heute schon die zwei häufigsten psychischen Erkrankungen. Ich bin überzeugt, dass — wenn z.B. durch irgend einen Virus unsere Stressreaktion auf einmal weniger effektiv arbeiten würde — wir einen massiven Anstieg psychischer Erkrankungen feststellen müssten.

So gesehen ist unsere Stressreaktion ein Immunsystem für unsere psychische Gesundheit und legt den Grundstein dafür, dass wir ein erfüllendes Leben führen können.

Fehlfunktionen

Natürlich kann unser Immunsystem für psychische Gesundheit auch versagen. Genau wie wir unser ’normales‘ Immunsystem durch zu wenig Regeneration oder zu viele Risikofaktoren überfordern können, können wir auch unser psychisches Immunsystem der Stressreaktion überfordern. Für beide Immunsysteme gelten die goldenen Regeln ausreichend Erholung und Schlaf, Bewegung (am besten in der Natur), gesunde Ernährung und die Maßgabe Risikofaktoren zu minimieren.
Und ähnlich wie eine Autoimmunerkrankung kann auch unser Stresssystem aus dem Gleichgewicht geraten und sich u.a. durch chronisch überhöhte Kortisolspiegel gegen sich selbst richten. Es gibt sogar einen Begriff dafür: Burnout.

Der gute Stress

Stress ist aber nicht per se schlecht. Spannenderweise kann zu wenig Stress sogar genauso schädlich sein wie zu viel Stress. Zu wenig Stress lässt uns träge, lethargisch und weniger widerstandsfähig werden.
Ein ideales Level an Stress aktiviert uns und macht uns leistungsfähig; um uns weiter zu entwicklen, zu lernen und (psychisch wie physisch) zu wachsen — die Grundlage für menschliche Entwicklung und gesellschaftlichen Fortschritt.

Hans Seyle unterschied hier sogar zwischen einem „guten“ Stress oder Eustress und einem „schlechten“ Stress oder Distress. Der Zusammenhang zwischen beiden ist dabei U-förmig. Ein optimales Stresslevel aktiviert uns dabei nicht zu viel und nicht zu wenig.

Zusammenhang zwischen Stresslevel und Aktivierung
Unsere Stressreaktion ist gut — wir müssen nur auf sie hören lernen

Wir sollten Stress also nicht verteufeln, sondern dankbar sein, dass es Stressoren in unserer Umwelt gibt, die uns aktivieren und uns durch eine angemessene Stressreaktion dazu in die Lage versetzen, Herausforderungen zu meistern und daran zu wachsen.

Wenn wir allerdings in einen Teufelskreis geraten, in dem wir nach einer Stressreaktion nicht genug Regeneration finden bevor uns der nächste signifikante Stressor erreicht und wir längerfristig in Distress „abrutschen“ sollten wir Gegensteuern. Durch aktives Stressmanagement, durch Training unserer Stressbewertung und durch aktive Regeneration.

Wie Sie das unter Verwendung der neuesten Erkenntnisse der Stressforschung, mit bewährten Techniken und vielen praktischen Tipps machen können, zeigen wir Ihnen übrigens in unserem Onlinekurs: Stress bewältigen und vorbeugen. Wenn Sie Interesse haben, sehen Sie sich diesen doch einmal an:

Und wenn Ihr Stresslevel derzeit schon in einem hoffentlich optimal aktivierten Level eingependelt ist, lade ich Sie einmal zu einem kleinem Experiment ein: Starten Sie den nächsten Smalltalk mit Ihren Kollegen oder Freuden doch einmal mit dem Satz: „Ich habe richtig guten Stress“.
Sie werden sehen, daraus können sogar richtig spannende Gespräche entstehen…

Wenn Sie Fragen oder Anmerkungen haben, freuen wir uns über Ihre Kommentare unter dem Artikel oder über eine Nachricht über unser Kontaktformular.

Quellen und weiterführende Literatur:

  • Abramson, L. Y., Seligman, M. E., & Teasdale, J. D. (1978). Learned Helplessness in Humans: Critique and Reformulation. Journal of Abnormal Psychology87(1), 49.
  • Foley, P., & Kirschbaum, C. (2010). Human hypothalamus-pituitary-adrenal axis responses to acute psychosocial stress in laboratory settings. Neuroscience and Biobehavioral Reviews, 35, 91–96.
  • Lazarus, R. (1991).  Emotion and Adaptation. Oxford University Press, New York, NY.
  • Selye, H. (1976). Stress without Distress. In G. Serban (Ed.), Psychopathology of Human Adaptation (pp. 137–146). Boston, MA: Springer US.