Wie können Unternehmen das Purpose „Valley of Death“ überbrücken?

Stellen Sie sich vor es gibt Arbeit und alle gehen gerne hin. Vorgesetzte sind Vorbilder und keine Einpeitscher. Teams spüren, dass ihre Führungskräfte das Unternehmensziel verkörpern, und alle wissen, worauf es ankommt. Jede*r trägt ihren Teil dazu bei, Kundenwünsche zu erfüllen und neue Ideen zu entwickeln, denn Leistung wird anerkannt und Innovation belohnt. Falls einmal etwas schiefläuft, werden gemeinsam Lösungen gesucht und nicht einzelne Schuldige. Das Wohlergehen jedes Einzelnen steht dabei über allem – auch das der Führungskräfte, die im Unternehmen auch einmal „Mensch“ sein dürfen und Unterstützung dankbar annehmen. Denn letztlich streben alle nach dem Gleichen (in unterschiedlichen Ausprägungen): Sinn in der Tätigkeit erkennen, sich für etwas motivieren oder begeistern zu können und zu einer Gruppe von Menschen gehören, die einen wertschätzt.

Und dann klingelt der Wecker.

Ist es nicht erstaunlich, dass diese imaginäre Arbeitswelt so intuitiv klingt, und doch so schwer umzusetzen ist? Es mangelt ja auch nicht an Forschungserkenntnissen, die zeigen, dass mehr „Purpose“ und eine höhere Verbundenheit mit der Arbeit zu mehr Produktivität, Mitarbeiterloyalität, höherer Innovation und zufriedeneren Kunden führt (u.a. M. Nick mit der Gallup-Studie, H. Hatami zu CEO-Prioritäten, M. Hanson zu Performance, etc.).

Und einige Firmen schaffen es, eine vergleichbare Unternehmenskultur zu entwickeln. Oft ähnelt auch die Anfangsphase erfolgreicher Startups so einem Bild. Doch nach einer gewissen Zeit schleichen sich diverse Unternehmens-„Krankheiten“ ein: Silodenken, Machtspiele, Überbürokratisierung, etc. die gekoppelt mit fehlender Kommunikation und wachsendem Misstrauen zu Demotivation und Frustration führen. Und der Teufelskreis einer toxischen Unternehmenskultur beginnt.

Warum ist das so? Weil eine gute Unternehmenskultur kein Selbstläufer ist, sondern Aufwand bedeutet, den viele Manager unterschätzen. Und weil Unternehmenskultur sich entwickeln und sich an veränderte Rahmenbedingungen anpassen muss. 

Zwei typische Beispiele:

  • Ein stark wachsendes Startup verliert die „coole Gründerkultur“ mit offenem, informellem Austausch und flachen Hierarchien als die Teamgröße sich binnen kurzer Zeit verfünffacht. Sobald ca. 100 MA überschritten werden, braucht es „professionellere“ Strukturen und neue Prozesse in der Zusammenarbeit, die nicht mehr zur alten Kultur passen …
  • Ein etabliertes Unternehmen findet sich in einer #NewWork Zeit wieder, in der Mitarbeiter Remote Work mit flexiblen Zeiten fordern, und in der das Recruiting bei Fachkräftemangel schwierige Fragen zu Nachhaltigkeit und Purpose aufwirft. Bewährte Strukturen und Modelle der Führung funktionieren nicht mehr und der Ruf nach einer neuen Firmenkultur schallt durch die Gänge …

Das Dilemma jeder Veränderung 

“Die einzige Konstante im Leben ist der Wandel ”

Heraklit (griechischer Philosoph)

Leben bedeutet Veränderung – was für biologische Organismen genauso gilt wie für physische Organismen, z.B. Firmen oder Organisationen. Und ein bemerkenswert breites Feld an Forschung zu Wandel zeigt zwei immer wiederkehrende Muster (von den Stufen der Trauer bzw. des Sterbens nach Kübler-Ross über Teamentwicklung nach Tuckman bis zu Innovation in Organisationen nach Rogers, Moore oder Christensen): 

  1. Veränderung läuft in Phasen ab 
  2. Es wird erst einmal schlimmer, bevor es besser wird.

Auch der Wandel hin zu einer Purpose-Driven Organization durchläuft in Stufen, die grob vereinfacht so aussehen:

Phasen im Wandel zu einer Purpose-Driven Organization

Und darin liegt die Herausforderung für jede Veränderung: Es gibt ein Tal, ein „Valley of Death“, in der die Produktivität eines Unternehmens leidet, in der alte Strukturen und Methoden nicht mehr funktionieren, und die neuen noch nicht

In dieser Zeit verschlechtert sich die Unternehmenskultur, Führungskräfte fühlen sich überfordert und Mitarbeiter sind frustriert. Es braucht Zeit, Ausdauer und Unterstützung dabei, neue Methoden zu testen und zu etablieren. Erst wenn neue Ansätze funktionieren, wird die Talsohle durchlaufen und eine Phase des Wachstums beginnt, in der das alte Leistungsoptimum überschritten wird.

Voraussetzung für den erfolgreichen Wandel zu einer Purpose-Driven Organization

Diese Talsohle ist auch die größte Hürde für Unternehmen, die sich vielleicht gerade sowieso schon in einer Phase sinkender Produktivität befinden, denn jede weitere Einbuße kostet. Doch manchmal ist der einzige Weg nach oben, erst einmal der Schritt nach unten. Und wenn Führungskräfte in dieser Phase unterstützt werden, kann der Abstieg deutlich kürzer ausfallen. 

Die folgenden vier Voraussetzungen sollten gegeben sein, damit der Wandel hin zu einer neuen Unternehmenskultur funktionert, die sich (stärker) an Purpose orientiert: 

  • Das Top Management ist bereit, kurzfristig Produktivität zu verlieren, um eine langfristig produktivere und nachhaltige Unternehmenskultur zu entwickeln
  • Eine kritische Menge an Führungskräften ist bereit einen Kulturwandel vorzuleben
  • Eine kritische Menge von Mitarbeitern stellen sich bereits Fragen zum Sinn der Arbeit und möchten diese proaktiv gestalten
  • Das Unternehmen und die Aufgaben bieten Freiraum für individuelle Gestaltung und Innovation.

Die Unterstützung der Entwicklung einer Purpose-Driven Organization sollte am besten zweigleisig erfolgen: Führungskräfte werden zur Purpose-Driven Leaders geschult und begleitet („top down“), und Mitarbeitern werden in Ihrer Suche nach individuellem Sinn/Purpose gefördert („bottom-up“). So können Verwerfung in der Produktivität gering ausfallen und die Neuorientierung beschleunigt werden.

Purpose fatigue? Was soll das denn jetzt mit dem Purpose …

Brauchen wir denn jetzt unbedingt Purpose? Natürlich nicht. 

Der pauschale Ruf nach mehr „Purpose“ im Unternehmen kann sogar kontraproduktiv sein, und es gibt einige kritische Stimmen die Purpose als den nächsten Marketing-Hype sehen – mit einiger Berechtigung. Denn wenn kein Bedarf anPurpose gesehen wird, bewirkt ein „diktierter“ top-down Purpose das Gegenteil: Er lässt Mitarbeiter zynisch werden und sich von den Führungskräften und dem Unternehmen abkehren. Ähnliches gilt für Mitarbeiter, die sich sinnstiftende Entfaltungsmöglichkeiten bottom-up wünschen, diese aber nur auf glänzenden Powerpoint-Präsentationen finden, und nicht im Verhalten der Führungskräfte: Erwartungen werden geweckt und gleich darauf wieder enttäuscht – mit Frustration und Demotivation in der Konsequenz. 

In anderen Worten: Wenn die genannten vier Voraussetzungen nicht gegeben sind, ist eine „Purpose Initiative“ zum Scheitern verurteilt und wird vermutlich sogar das Gegenteil bewirken.

Meint es ein Unternehmen allerdings ernst mit dem Wandel, so bieten die sich stark veränderten Rahmenbedinungen der Gegenwart eine gute Gelegenheit, sich als Organisation neu aufzustellen. Denn Purpose (und angrenzende Themen wie NewWork, Remote Office, Flexiwork, etc.) mag vielleicht ein Modewort sein, aber die zutiefst menschliche Suche nach tieferem Sinn im Leben und Beruf ist tausende Jahre alt und heute aktueller denn je.

* Der sprachlichen Einfachheit halber verzichten wir auf ein „gendern“ im Text. Bei allen genannten Jobs/Rollen/etc. sind selbstverständlich immer alle Geschlechter gemeint.

Photo credit: Jacob Kiesow on Unsplash

To be continued…

Im Teil 2 dieses Beitrags stellen wir Ihnen ein Beispiel vor, wie anhand eines speziell zugeschnittenen Führungskräfte-Trainings, die Entwicklung eines Purpose-Driven Unternehmenskultur im einem Beratungsunternehmen gefördert werden konnte.

Literatur

  • Rogers, E. M. (2003, 5th ed). Diffusion of Innovations.
  • Moore, G. (1991). Crossing the Chasm: Marketing and Selling High-Tech Products to Mainstream Customers.
  • Christensen, C. (1997). The Innovator’s Dilemma: The Revolutionary Book That Will Change the Way You Do Business.
  • https://en.wikipedia.org/wiki/Five_stages_of_grief
  • https://en.wikipedia.org/wiki/Tuckman%27s_stages_of_group_development
  • Gulbrandsen, K. E. (2009). Bridging the valley of death: The rhetoric of technology transferDissertation. Iowa State University. 
  • Hansen, M. (2018). Great at work: How top performers work less and achieve more. New York: Simon & Schuster.
  • Hatami, H., & Segel, L. H. (2021). What Matters Most: Five priorities for CEOs in the next normalMcKinsey & Company
  • Lyubomirsky, S., King, L., & Diener, E. (2005). The benefits of frequent positive affect: Does happiness lead to success? Psychological Bulletin131(6), 803–855. 
  • Nink, M. (2017). Engagement Index Deutschland 2016Gallup.