Was bedeuten digitale Netzwerke für unsere menschlichen Beziehungen — und was hat das mit einem erfüllenden Leben zu tun?

Wie viele „Connections“ haben Sie auf LinkedIn, Xing oder Facebook? Wie groß ist Ihr digitales Netzwerk über alle WhatsApp Gruppen? Wenn Ihre Antwort auf diese Fragen überraschenderweise „0“ lauten sollte: herzlichen Glückwunsch zur Ihrer digitalen Abstinenz — und eine Frage aus persönlichem Interesse gleich hinterher: wie haben Sie denn das geschafft?!

Eine global vernetzte Welt

Wenn wir uns einmal ein anderes Extrem anschauen: In einer Umfrage zu LinkedIn von Statista gaben 2016 mehr als die Hälfte der Befragten an, mindestens 500 Kontakte 1. Grades zu haben. Versucht man auf Basis der Umfragewerte einen Mittelwert zu schätzen, kommt man rein rechnerisch sogar deutlich über 1,000 Kontakte. Es gibt eine Statistik aus dem Jahr 2013, da lautete diese Zahl noch unter 400. Auch das ist viel — aber können Sie sich die Gesichter und Vornamen von über 1,000 Menschen merken? Ich nicht.

Kontakte 1. Grades auf LinkedIn: Ergebnisse einer Umfragen von Statista von März 2016
(Quelle: https://www.statista.com/statistics/264097/number-of-1st-level-connections-of-linkedin-users/)

So scheint unsere global vernetzte und digital unterstütze Welt inzwischen zu funktionieren: Geschäftskontakte hält man auf LinkedIn oder Xing, private Kontakte auf Facebook und Instagram (bzw. für die nicht-digitalen Dinosaurier: Snapchat, WeChat, TikTok), Dating läuft über Tinder, Parship. etc., Mitteilungen kommen über WhatsApp & Co., Nachrichten findet und teilt man via Twitter Follower und neue Dinge (Sinnloses und Sinnvolles) lernt man durch YouTube Kanäle. Gottseidank steht meist ja ein Name, Foto und Kurzbeschreibung unter jedem Profil.

Ungebunden

Trotz der Masse an digitalen Connections gibt es immer mehr Menschen, die einsam sind. In Großbritannien schätzte eine Studie, dass sich 14% der Bevölkerung oft oder immer einsam fühlen, was 2018 zu Schaffung eines „Minister of Loneliness“ in den UK führte, was eine schwere Aufgabe zu sein scheint — Diana Barran ist inzwischen schon die dritte Besetzung in 2 Jahren (zuvor Mims Davies und Tracey Crouch). Eine Studie von Splendid Research schätzt, dass sich in Deutschland 17% der Bevölkerung ständig oder häufig einsam fühlen. Und Einsamkeit macht nicht nur physisch und psychisch krank, sondern erhöht sogar die Sterberate (Henriksen et. al, 2019).

Wir sind heute wohl zeitgleich mit so vielen Menschen „connected“ und fühlen uns doch so wenig verbunden wie nie zuvor.

Quelle: Economist 01.09.2018

Individualismus ist inzwischen sogar zu einem angestrebten Ziel und einem gesellschaftlichen Wert geworden. Aus der Prä-industriellen Not auf einem Hof gemeinsam wohnen zu müssen ist über die letzten Jahrhunderte ein Streben nach „Ungebundenheit“ geworden. Wir lieben unsere Freiheit, suchen das was uns einzigartig macht und wollen am liebsten von niemanden abhängig sein — in der modernen Familie, Beruf und Freizeit. So zeigt der Economist den Anteil der Einpersonenhaushalte in einigen entwickelten Ländern inzwischen schon bei über 50%, Tendenz steigend.

Echte Verbindungen — Klasse statt Masse

Was bedeutet die Masse an digitalen Verbindungen nun aber für unsere Beziehungen zu Menschen und unser Streben nach Erfüllung? Warum scheinen uns die digitalen Verbindungen eher einsam zu machen, obwohl sie es uns doch leichter machen, mit Menschen in Kontakt zu treten? Eigentlich ist es simpel: Die Quantität digitaler Connections kann die fehlende Qualität einer echten Verbindung zwischen Menschen nicht ersetzen.

Aber was definiert denn eine „echte“ Verbindung? Wie so oft bei diesen abstrakten Fragen gibt es keine eindeutige Definition und man muss sich über Umwege nähern — hier ein paar Anhaltspunkte aus diversen Perspektiven (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

  • Philosophie: z.B. Aristoteles beschrieb drei Formen der Liebe (Eros = sexuelle Liebe, Agape = göttliche L., Philia = freundschaftliche L.) und maß letzteren eine besondere Bedeutung zu. Die höchste Form von freundschaftlicher Philia basiert dabei auf gegenseitiger Wertschätzung mit idealerweise einem gemeinsamen Ziel
  • Biologie: Bindung ist ein angeborener Trieb des Menschen und befriedigt Bedürfnisse nach Sicherheit, Geborgenheit und Schutz
  • Psychologie: Aus dem Bindungsverhalten entsteht entwicklungspsychologisch unsere Fähigkeit für menschliche Beziehungen; diese brauchen als Grundlage ein verbindendes Element und beruhen auf Gegenseitigkeit
  • Glücksforschung: (nicht-digitale) Beziehungen zu anderen Menschen sind ein Grundpfeiler für ein erfüllendes Leben und wirken signifikant positiv auf psychische und physische Gesundheit

Was leiten wir daraus ab? Es gibt also eine evolutionäre Basis und menschliche Beziehungen sind wesentlich für unser physisches und psychisches Wohlbefinden. Um eine Beziehung aufzubauen, brauchen wir irgendein verbindendes Element; um eine Beziehung aufrecht zu erhalten bedarf es Gegenseitigkeit. Anscheinend schätzen wir den Wert unserer Beziehungen und sind gern bereit zu geben — allerdings in der Erwartung, einen Gegen-Wert in irgendeiner Form zumindest langfristig zurückzuerhalten*. Das spiegelt sich sogar etymologisch in einem schönen Begriff wieder: Wertschätzung.

Wertschätzung basiert auf Gegenseitigkeit und macht aus aus einer Verbindung eine „echte“ Beziehung.

Wertschätzung ist im zentor Modell eine der drei wesentlichen Säulen für ein erfüllendes Leben, neben Sinn und Engagement. Der Zusammenhang von Verbundenheit, Wertschätzung und Gegenseitigkeit lässt sich schön in der folgenden vereinfachten Definition darstellen: Wertschätzung = Verbundenheit + Zuneigung.

zentor Gleichung für Wertschätzung (eine der drei Säulen für ein erfüllendes Leben)

Aus dieser Definition lässt sich auch unschwer erkennen, dass unsere digitalen Netzwerke nur eine sehr schwache (digitale) Basis der Verbundenheit geben und keine nachhaltige Zuneigung liefern. Die Währung der digitalen Likes, Kommentaren und Erwägungen lässt sich nicht in die Währung einer echten zwischenmenschliche Wertschätzung umtauschen, so sehr wir es auch versuchen. Denn der kurze Reiz und der Kick für digitale Daumenhochs ist da — doch umso mehr wir sie suchen (und vielleicht auch bekommen) umso hohler fühlen sie sich an. Das ist in etwa so, wie wenn man hungrig im Supermarkt in Großbritannien den Einkaufswagen volllädt und an der Kasse versucht mit Euro zu bezahlen. Wir wissen das etwas fehlt, wir fühlen es und tun uns trotzdem schwer etwas daran zu ändern.

Gehet hinaus und wertschätzet euch

Und die Moral von der Geschicht‘? Echte zwischenmenschliche Wertschätzung lässt sich durch nichts ersetzen — und sie tut auch nicht weh! Im Gegenteil, wir brauchen nur eine sinnvolle Verbindung mit Menschen (ein geteiltes Hobby, der gleiche Arbeitsplatz, vielleicht sogar ein gemeinsames Ziel) und schon kann eine einfache Zuneigung oder wertschätzende Geste Menschen zutiefst erfüllen: „Du machst das gut“, „Es macht Freude mit Dir zu arbeiten“, … Klingt simpel, ist es auch — die größte Hürde ist der erste Schritt.

Wenn Sie noch auf der Suche nach einem gemeinsamen Ziel oder einem spannenden Projekt sind, das Sie mit Gleichgesinnten starten wollen, empfehlen wir Ihnen einen — wertschätzenden — Blick in unsere zentor Projektplattform. Vielleicht ist ja für Sie was dabei?

Wenn Sie Anmerkungen oder Fragen zu dem Artikel haben, freuen wir uns über Ihre Kommentare unten.

* der Gegenwert kann dabei auch von jemand anderen „zurückgezahlt“ werden z.B. im Mentoring (wobei der Gegenwert dabei auch schon die positive Anerkennung sein kann) oder durch pay-it-forward Ansätze.

Quellen:

  • https://www.statista.com/statistics/264097/number-of-1st-level-connections-of-linkedin-users/
  • https://alltop.com/viral/portrait-of-a-linkedin-user-infographic
  • https://www.economist.com/international/2018/09/01/loneliness-is-a-serious-public-health-problem
  • https://www.splendid-research.com/de/studie-einsamkeit.html
  • https://time.com/5248016/tracey-crouch-uk-loneliness-minister/
  • Henriksen, J., Larsen, E. R., Mattisson, C., & Andersson, N. W. (2019). Loneliness, health and mortality. Epidemiology and Psychiatric Sciences28(2), 234–239. https://doi.org/10.1017/S2045796017000580