Die aktuelle Krise rund um Covid-19 ist eine Herausforderung — aber auch eine Chance

In diesen Wochen verschieben sich unsere Prioritäten wie tektonische Platten bei einem Erdbeben. Ziele die uns noch vor ein paar Wochen wichtig und erstrebenswert schienen – beruflicher Erfolg, der geplante Urlaub, die nächste Anschaffung – fühlen sich merkwürdig fern an. Viele treibt die Sorge um, wie lange ihr finanzielles Polster noch reicht und wie die nächste Miete bezahlt werden soll; der „Shutdown“ der Wirtschaft hat Kurzarbeit und Entlassungen zu einer neuen Realität werden lassen. Dinge die wir als gegeben annehmen und die wir in entwickelten Ländern nur unterbewusst wahrnehmen – Überleben, Nahrung, Sicherheit – schieben sich plötzlich bedrohlich in unser Bewusstsein und wir entdecken eine für die meisten von uns unbekannte Angst diese zu verlieren. 

Ein neues Bewusstsein

Auf der anderen Seite drängt uns dieses neue Bewusstsein, unser Sein bewusster zu denken. Aus Hunderten Gesprächen mit Menschen über Sinn und Erfüllung im Leben und aus Erkenntnissen der Glücksforschung wissen wir, dass viele schon seit einer Weile – unabhängig von Covid-19 – zweifeln, ob unser Sein noch zu unserem Selbst passt. 

Erfolgreiche Manager fragen sich nach der letzten Beförderung, wo denn nun endlich das Glück auf der endlosen Karriereleiter zu finden sei. Eltern in Elternzeit überlegen, wie Sie wieder in die Berufswelt einsteigen können, wenn ihr Lebensmittelpunkt lange Zeit von den Kindern bestimmt war. Menschen die ihre Arbeit verlieren zweifeln, ob sie endlich eine Berufung finden, anstelle des nächsten Jobs. Beginnende Rentner fragen sich, wer sie sind, wenn die Arbeit aufhört, die ihre Identität durch Aufgabe, Anerkennung und soziales Netzwerk geprägt hat. 

Die Auslöser für diese tiefen Reflexionen sind meist individuelle Lebensphasen und Übergänge. Der Corona Virus scheint uns nun allerdings in eine Phase kollektiver „Besinnung“ auf die wesentlichen Dinge im Leben zu schieben. 

Kollektive Besinnung

Wenn wir uns jetzt alle besinnen, waren wir vorher dann kollektiv ent-sinnt? Scherz beiseite, aber vielleicht ist doch etwas Wahres daran? Spannenderweise suchen wir Menschen nämlich genau in schwierigen Phasen nach tieferem Sinn (neudeutsch: Purpose) im Leben. Und vielleicht hatten viele von uns einfach schon zu lange keine wirklich bedrohliche Phase mehr, die uns wieder Mensch werden lässt und im Hier & Jetzt erdet. Was hilft mir mein Status, wenn mich die Aufgabe, die ich dafür erledigen muss unglücklich macht? Wozu brauche ich mehr Geld, wenn ich genug fürs Überleben habe und mehr Geld weniger Zeit mit meiner Familie bedeutet? 

Wie finde ich zurück zu meinem Selbst, wenn ich es durch Symbole ersetzt habe?

Die Bedrohung des Virus schickt uns auf eine neue Sinnsuche in Arbeit wie Privatem, Ausgehbeschränkungen lassen uns menschliche Nähe und Anerkennung vermissen und nach Betätigungen suchen, für die wir uns wieder engagieren und begeistern können.

Bei allen Herausforderungen erscheint mir diese schwierige Zeit als eine große Chance für unsere psychische Gesundheit und die Gesellschaft als Ganzes. Denn genau diese Themen – Sinn, Wertschätzung, Engagement – sind die drei wesentlichen Quellen für ein erfülltes und damit psychisch gesundes Leben (siehe dazu auch diesen Artikel bzw. dieses Video) und eine wesentliche Grundlage für eine nachhaltigere Gesellschaft.

Ein Lehrstück in menschlicher Psyche 

Wenn wir Leid anderer Menschen erkennen, spüren wir unsere Menschlichkeit jenseits der Rationalität, empfinden Mitgefühl und Erleichterung, wenn wir nicht betroffen sind und besinnen uns (normalerweise) wie gut es uns eigentlich geht.

Doch diese Corona Krise ist anders. Nicht nur dass die mediale Aufbereitung uns fast ununterbrochen mit aktuellen Schreckensnachrichten konfrontiert, dieses Mal bleibt die Erleichterung aus, dass wir nicht betroffen sind. Denn in irgendeiner Form sind wir es alle. Ein Großteil der Weltbevölkerung wird wohl erkranken (je nachdem, wie der Wettlauf zwischen Impfstoff-Entwicklung und Virus-Ausbreitung ausgeht) und Trauerfälle werden eine Weile unseren Alltag mitbestimmen. Ausgangsregeln stellen unser soziales Leben auf den Kopf und die Auswirkungen auf die Wirtschaft werden Jahre andauern und Existenzen bedrohen. 

Wir können auf keine baldige Erleichterung hoffen; stattdessen treibt uns die Sorge um, dass es uns bald evtl. sogar schlechter gehen könnte. Diese Sorge manifestiert sich im Moment in so kleinen Absurditäten wie Klopapierhorten*, aber leider auch in einem Anstieg von Scheidungsraten und häuslicher Gewalt bei beengtem Zusammenleben und Suizid bei sozialer Isolation.

Auf der anderen Seite geben Mediziner, Pflegekräfte und Forscher weltweit alles, um Menschenleben zu schützen und zu erhalten; Unternehmer stellen ihre Produktion um, um kostenlos knappe Güter wie Schutzkleidung und Desinfektionsmittel liefern zu können; Nachbarn bieten anderen Hilfe an; und aus offenen Fenstern klingt – getrennt und doch gemeinsam – Musik oder dankbarer Applaus. Unser Menschenbild und Berufsbilder ändern sich.

In dieser Zeit zeigt sich das wahre Gesicht der Menschen und die Widerstandsfähigkeit einer Gesellschaft.

Perspektivenwechsel

Die letzten Wochen fühlen sich surreal an. Es wird in nächster Zeit wohl auch kein Zurück zur gewohnten Realität geben. Covid-19 zwingt uns zur Re-Kalibrierung unserer Gewohnheiten, Annahmen und vielleicht sogar unserer Identität. Denn Dinge, die wir als gegeben annehmen, sind nicht mehr selbstverständlich. 

Aus unseren Erwartungen ist eine Hoffnung geworden. 

Und das ist vielleicht auch gut so, denn hohe Erwartungen werden im Zusammentreffen mit der Realität häufig enttäuscht und lassen uns wenig erfüllt fühlen. Hoffnung hingegen ist weniger gekoppelt an ein erfülltes Leben, da Hoffnung weniger konkret und zeitbezogen ist, und das Erfüllen der Hoffnung eben nicht „erwartet“, sondern eher als Glücksfall verstanden wird (ich erwarte die Beförderung in 3 Monaten, aber ich hoffe, alles geht gut).

Es liegt in der Natur der Menschen, dass unsere Erwartungen von ganz allein steigen, wenn es uns über lange Zeit gut geht – wir gewöhnen uns schnell an die Annehmlichkeiten des Lebens. Wenn ein Teil unserer hohen Erwartungen durch die Krise nun zu Hoffnungen werden, ermöglicht dies uns dankbarer zu sein für das, was wir haben – und somit auch hoffnungsvoller und erfüllter zu leben. Wenn wir es dann auch noch schaffen, die Hoffnung um ein Vertrauen in uns selbst zu ergänzen, diese Krise meistern zu können, setzen wir den wesentlichen Grundstein für den Blick nach vorne. 

Zeit für eine neue Aufgabe

Psychologen nennen diese Überzeugung, durch eigene Kraft eine Veränderung bewirken zu können „Selbstwirksamkeit“. Selbstwirksamkeit gibt uns die Chance in einer Krise anstatt sehnsüchtig zurück zu blicken, eine Neuausrichtung für unsere Zukunft zu wagen. 

Wir können die Ausgangsbeschränkungen, unsere aktuelle Belastung und unsere Sorgen dazu nutzen, uns auf das wirklich Wesentliche im Leben zu konzentrieren – alte Gewohnheiten abzulegen, verstaubte Annahmen zu hinterfragen und den Kern unseres Selbst zu suchen. Am besten durch eine neue Aufgabe, die uns dieses Selbst „erlebbar“ macht. Der beste Ansatz der Glücksforschung ist dabei, die eigenen Stärken für etwas anzuwenden, das über uns hinausreicht. Ein Buch für andere schreiben, eine neue Sprache oder Fähigkeit lernen, eine virtuelle Musikband starten, anderen helfen, etc. – und als Nebeneffekt dafür weniger Zeit mit Netflix, Social Media oder Nachrichten zu verbringen.

Die beste Zeit eine neue Aufgabe, Herausforderung oder Projekt zu suchen ist jetzt!

Es ist paradox anzunehmen, dass wir Ruhe bräuchten, um uns neu zu orientieren – im Gegenteil, wir brauchen emotionalen Aufruhr und „Leidensdruck“, um uns so tiefen Themen wie unserem Selbst und unserer Identität zu widmen. In ruhigen und entspannten Zeiten sind wir dazu zu träge – oder um eine Analogie zu bemühen: die schönsten Kunstwerke und größten Errungenschaften entstanden nicht durch Müßiggang, sondern aus Leid oder Euphorie.

Gerade wenn uns durch Homeoffice, Sorge um die finanzielle Absicherung und Stress durch Familie auf engen Raum (oder durch soziale Isolation) die Decke auf den Kopf fällt, ist es Zeit uns zu fragen, wie unser Leben nach der Krise aussehen sollte. Und das am besten bevor wir in einen alten Trott zurückfallen. Finden Sie Ihren neuen Trott und suchen Sie sich eine Aufgabe, die für Ihr Selbst, Ihre Stärken und Ihre Identität steht. Und es ist unerheblich, ob das eine berufliche Neuorientierung ist, ein Nebenprojekt, oder ein neues Hobby. Ich empfehle Ihnen allerdings die drei wesentlichen Quellen für ein erfülltes Leben aus der Glücksforschung zu berücksichtigen: tieferen Sinn zu suchen in dem was Sie tun, etwas zu finden für das Sie sich engagieren bzw. begeistern können, und zwischenmenschliche Wertschätzung zu ermöglichen.

Auf unserer zentor Purpose Plattform finden Sie übrigens schon einige sinnstiftende Ideen, Aufgaben und Projekte, bei denen Sie mitmachen können. Auch können Sie die Plattform einfach dazu nutzen, Mitstreiter für Ihre Idee zu finden und diese zu koordinieren. Wir haben uns übrigens dazu entschieden, unsere Plattform für alle Privatkunden komplett kostenfrei zu machen, damit einem Perspektivenwechsel zu einem erfüllteren Leben nichts im Weg steht. Vielleicht schauen Sie ja mal auf der Plattform vorbei?

Weiterführende Literatur und Quellen

*Randnotiz: Eine spannende Zeit für Psychologen, Spieltheorie-Forscher (Stichwort Nullsummenspiele) und Ethnologen (was den Deutschen ihr Klopapier scheint den Italienern ihr Wein zu sein…)

Photo by Nitish Meena on Unsplash