Wie uns eine innere Haltung hilft, den Kopf zu leeren und unsere Aufmerksamkeit wieder auf das zu lenken, was uns wichtig ist im Leben

Stellen Sie sich zwei Personen vor, die an einer wunderschönen Sommerwiese vorbeigehen, Herr Frust und Frau Sommer. Herr Frust hatte einen frustrierenden Arbeitstag, muss noch einkaufen gehen und ist spät dran, um seine Kinder abzuholen; Frau Sommer hatte einen entspannten Badetag am See und ist früh dran für ein Treffen mit Freunden. Man muss kein Hellseher sein, um sich vorzustellen, dass die beiden die Blumenwiese wohl sehr unterschiedlich wahrnehmen werden …
Der Kopf ist voll mit 1000 Kleinigkeiten, die unsere volle Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen und nebenbei rauscht das Leben an uns vorbei.

Wie kommen wir — und hier funktioniert die englischsprachige Variante besonders schön — vom mind full zu mehr mindful? Oder umschreibender auf Deutsch formuliert: Wie können wir trotz dem allgegenwärtigen Stress und mit all den (digitalen) Ablenkungen gezielt auf das fokussieren, was uns wichtig ist? Eine Methode, die uns nicht nur dabei hilft uns zu fokussieren, sondern uns auch in akuten Stresssituationen unterstützt, ist Achtsamkeit. Oft merken wir in einer Situation gar nicht direkt, wie sehr sie uns stresst, sondern stellen erst im Anschluss fest, dass wir völlig erschöpft oder genervt sind. Vielleicht haben Sie sich auch schon mal darüber gewundert, was Sie jetzt eigentlich wieder so viel Energie gekostet hat. Damit genau das nicht passiert, ist es hilfreich, sich im gegenwärtigen Moment bewusst zu werden, was eigentlich gerade in einem vorgeht, welche Gefühle, Gedanken, Körperempfindungen vorhanden sind, um diese als Frühwarnsystem bestmöglich nutzen zu können. Und genau hier setzt das Thema Achtsamkeit an.

Was ist Achtsamkeit überhaupt?

Wikipedia definiert sie so: Achtsamkeit (engl. mindfulness) ist der Moment, in dem ein Mensch hellwach den gegenwärtigen Zustand seiner direkten Umwelt, seines Körpers und seines Gemüts erfährt, ohne von Gedankenströmen, Erinnerungen, Phantasien oder starken Emotionen abgelenkt zu sein, ohne darüber nachzudenken oder diese Wahrnehmungen zu bewerten.

Achtsam zu sein bedeutet, den gegenwärtigen Moment bewusst wahrzunehmen

Ich nehme beispielsweise bewusst war, dass die Sonne scheint und wie sich ihre wärmenden Strahlen auf meinem Unterarm anfühlen. Oder ich nehme bewusst war, wie das Stück Brot in meinem Mund schmeckt, welche Konsistenz es hat, wie es sich durch Kauen verändert — ohne Blick auf das Handy, nebenbei aufzuräumen oder nach einer neuen Netflix Folge zu suchen. Ich konzentriere mich schlicht auf eine einzige Sache ohne diese zu bewerten. Klingt banal? Ist es vielleicht auch.

Und dennoch, was haben Sie heute bereits bewusst mit allen Sinnen wahrgenommen?
Wissen Sie beispielsweise noch, wie Sie heute morgen geduscht haben? Wie sich die Wassertropfen auf ihrer Haut angefühlt haben? Haben Sie den Duft ihres Shampoos wahrgenommen? Oder sind Sie schon die Aufgaben für den Tag durchgegangen und haben nebenbei noch kurz die Kinder instruiert, was sie anziehen sollen …

Aber was haben wir überhaupt davon, wenn wir die Dinge bewusst wahrnehmen, wenn wir achtsam sind? Was passiert in unserem Körper, wenn wir aufmerksam sind und wie trägt das zu einem glücklicheren Leben bei?

Eines der bekanntesten und wissenschaftlich fundiertesten Trainings zur Stressbewältigung basiert darauf, Achtsamkeit in unser Alltagsleben zu integrieren. Im achtwöchigen Mindfulness-Based Stress Reduction Programm, das von dem Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn an der Massachusetts University in den USA entwickelte wurde, lernen die Teilnehmer grundlegende Techniken, um ihre Aufmerksamkeit bewusst zu steuern und über einen längeren Zeitraum aufrecht zu erhalten — mit dem Ergebnis dass sich das Wohlbefinden der Teilnehmer steigert, chronische Schmerzen reduzieren werden und die Depressivität sinkt. In anderen Worten: die Teilnehmer fühlen sich nach den 8 Wochen zufriedener, ausgeglichener und stabiler — und dieser Effekt hält nachweislich an.

Schauen wir uns das doch etwas genauer an. Eine Stressreaktion erfolgt immer nach dem gleichen Muster: es gibt einen Reiz, der uns aktiviert, darauf folgt eine Bewertung und wir reagieren mit einer Handlung darauf. Im Idealfall folgt als dritter Schritt eine Phase der Regeneration. In der zweiten Phase, reagieren wir normalerweise relativ automatisch auf einen Reiz ohne uns der Bewertungen, Gefühle, Gedanken und automatisch ablaufenden Reaktionen bewusst zu sein.

Kommt Achtsamkeit ins Spiel, verändert sich unser tägliches Erleben — wir halten kurz inne (und das kann wirklich nur ein Atemzug sein) und spüren was für ein Gefühl oder eine Körperempfindung auftaucht wenn z.B. ein Kollege meinen Vorschlag kritisiert. Ich bemerke eine Schwere auf den Schultern oder beiße die Zähne zusammen, merke, dass ich mich klein und herunter gezogen fühle oder angespannt und angefressen bin. Dann kann ich überlegen: was heißt es für mich und die Situation, dass diese Gefühle in mir auftauchen? Dadurch stelle ich Abstand zu diesem Gefühl her und habe vielleicht die Möglichkeit etwas bewusster zu entscheiden, wie ich reagiere. Ohne mich komplett von dem Gefühl vereinnahmen zu lassen oder vorschnell zu reagieren. Das klappt nicht immer und nicht sofort, aber je mehr wir Achtsamkeit praktizieren, desto besser funktionieren die biochemischen Prozesse, und die Mechanismen zur Gefühlsregulation gehen uns “in Fleisch und Blut” oder vielleicht treffender in “Hirn und Transmitter” über.  Wir nehmen Dinge anders wahr und wir nehmen andere Dinge wahr. Vielleicht sind wir anderen gegenüber gelassener, einfach weil wir durch die Emotionsregulation dem Gefühl der Genervtheit oder des Ärgers nicht mehr vollkommen ausgeliefert sind.

Das regelmäßige Achtsamkeitstraining ist ein Trainingscenter, um unsere Gefühle und unser Erleben etwas im Alltag etwas bewusster wahrzunehmen — die Veränderungen selbst finden dann in unserem täglichen Erleben statt.

Dabei fanden Forscher um Britta Hölzel (2007) an der Harvard University heraus, dass eine kurze ca. 10 min tägliche Achtsamkeitsmeditation ausreicht, um bereits nach wenigen Wochen Veränderungen im Gehirn nachweisen zu können. 

Wie sich ein tägliches Achtsamkeitstraining dazu nutzen lässt um mit unserem Stress im Alltag besser umzugehen zu können, und welche anderen Techniken sich dazu eignen, haben wir in unserem Onlinekurs zur Stressbewältigung und Prävention ausgearbeitet. Dieser Kurs wurde nach wissenschaftlichen Kriterien entwickelt und wird von gesetzlichen Krankenkassen erstattet, d.h. wenn Sie sich gelegentlich gestresst fühlen, laden wir Sie herzlich ein, einen Blick in den Kurs zu werfen:

Wenn Sie hauptsächlich an Achtsamkeit interessiert sind, gibt es eine Reise in eigens dafür entwickelter Apps mit geführten Achtsamkeitsübungen auf Deutsch und Englisch, die üblicherweise auch einige kostenfreie Kurse zum Ausprobieren beinhalten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne dass wir für die Verlinkung etwas bekommen würden, hier eine kleine Auswahl für Sie zur Information:

  • Headspace
  • Balloon
  • Waking Up
  • Calm
  • Insight Timer

Und wenn Sie das nächste mal zufällig an einer Sonnenblumenwiese vorbei schlendern sollten, dann können Sie ja mal ausprobieren, was passiert, wenn Sie den Vogel Strauß machen und versuchen mit ihrem Kopf in das Blütenmeer einzutauchen. Eins ist fast sicher: es wird ein unvergesslicher Moment, insbesondere für Ihre Begleiter ….

Ausgewählte Literaturangaben und Quellen

  • Campos, D., Cebolla, A., Quero, S., Bretón-López, J., Botella, C., Soler, J., … Baños, R. M. (2016). Meditation and happiness: Mindfulness and self-compassion may mediate the meditation-happiness relationship. Personality and Individual Differences, 93(may 2011), 80–85.
  • De Vibe, M., Solhaug, I., Rosenvinge, J. H., Tyssen, R., Hanley, A., & Garland, E. (2018). Six-year positive effects of a mindfulness-based intervention on mindfulness, coping and well-being in medical and psychology students; Results from a randomized controlled trial. PLoS ONE, 13(4), 1–17. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0196053
  • https://de.wikipedia.org/wiki/Achtsamkeit_(mindfulness)
  • Hölzel, B.K., Ott, U., Hempel, H., Hackl, A., Wolf, K., Stark, R., & Vaitl, D. (2007).Differential engagement of anterior cingulate and adjacent medial frontal cortex in adept meditators and non-meditators. Neuroscience Letters, 421, 16–21.
  • Kabat-Zinn, J. (1982). An outpatient program in behavioral medicine for chronic pain patients based on the practice of mindfulness meditation: Theoretical considerations and preliminary results. General Hospital Psychiatry, 4(1), 33–47
  • Lindsay, E. K., Young, S., Smyth, J. M., Brown, K. W., & Creswell, J. D. (2018). Acceptance lowers stress reactivity: Dismantling mindfulness training in a randomized controlled trial. Psychoneuroendocrinology, 87(September 2017), 63–73. https://doi.org/10.1016/j.psyneuen.2017.09.015